Die Frau mit der dicken Backe (Kvinden med den tykke kind)

Die rechte Gesichtshälfte einer 49-jährigen ist angeschwollen. Ist es eine Allergie oder eine Infektion? Schließlich findet der Hautarzt heraus, bei wem die Patientin am Tag zuvor war - und was dort geschah

Nøgleord: Ensidigt opsvulmet ansigt, allergi, infektion, bindevæv, tandlæge, trykluft, tandkødslommer


Die Patientin war sehr verunsichert, als sie zu uns in die Ambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf kam, an der ich damals arbeitete. Ich sah sofort, dass ihre rechte Gesichtshälfte stark geschwollen war, vom Oberlid des Auges bis hinunter zum Hals. Am Vortag habe sich das Aussehen ihres Gesichts plötzlich verändert, berichtete die 49-Jährige. Sie leide auch an Kopfschmerzen und das rechte Auge träne ein wenig. Sonst war die Patientin sehr still. Auch auf meine Fragen gab sie nur sehr knappe Antworten.

Sofort begann ich, über mögliche Ursachen einer Gesichtsschwellung nachzudenken. Eine allergische Reaktion kam infrage - auf ein Nahrungsmittel zum Beispiel oder auf ein Medikament. Doch allergische Reaktionen treten selten nur einseitig auf. Daher vermutete ich eher eine Entzündung. Vielleicht waren Krankheitserreger über eine Verletzung in der Haut ins Bindegewebe geraten. Dort können sich solche Eindringlinge zwischen den Lymphspalten ausbreiten; sie finden in dem warmen, abgeschlossenen Raum ideale Bedingungen, um sich zu vermehren. Also fragte ich die Frau nach typischen Anzeichen einer Entzündung: Fieber oder Schüttelfrost. Sie verneinte. Ob die Schwellung ihr Schmerzen bereite, fragte ich weiter. Sie verneinte wieder und klagte stattdessen über ein Druckgefühl.

Als ich das Gesicht und den Hals nach einer möglichen Eintrittspforte für Krankheitserreger untersuchte, fand ich nichts. Oft gelangen Keime beispielsweise über ein Ekzem an der Ohrmuschel oder über kleinste Verletzungen in die Haut. Doch davon war nichts zu sehen. Auch die Lymphknoten am Hals und in der Achselhöhle waren nicht angeschwollen - was ich bei einer Entzündung erwartet hätte.

Ich war irritiert. Die Symptome deuteten weder auf eine Allergie hin noch auf eine Infektion. Dabei musste ich bei meinem Urteil sehr vorsichtig sein: Denn bei einer Infektion können die Erreger in die Blutbahn gelangen und zu einer Blutvergiftung oder einer Hirnentzündung führen.

Auch musste ich mich zügig für eine Therapie entscheiden. Ich war im Zwiespalt: Verschrieb ich der Patientin eine antiallergische Behandlung mit Kortison, würde das die Lage drastisch verschlimmern, wenn es eine Infektion wäre - da diese Arznei die Körperabwehr unter-drückt. Gab ich ihr Antibiotika, würde das eine Allergie nicht lindern.

Schließlich fiel mir auf, dass die geschwollenen Gesichtspartien sehr weich waren und sich verschieben ließen. Bei einer Entzündung hätte ich dagegen eine feste Schwellung erwartet. Ich fragte noch mal, wie die Symptome am Vortag genau aufgetreten waren. Da endlich erzählte die Frau, dass sie beim Zahnarzt gewesen war. Dass der Kollege in einer zweistündigen Behandlung unter anderem einen Zahnabdruck für die Fertigung einer Brücke abgenommen hatte. Die Frau erinnerte sich, dass sie während der Behandlung plötzlich einen kurzen, stechenden Schmerz verspürt hatte. In jenem Moment hatte der Zahnarzt mit einem Gerät in ihrem Mund hantiert, das mit Druckluft die Zahnoberflächen reinigt und trocknet.

Endlich ergaben die Symptome einen Sinn: Die Patientin litt an einer Ansammlung von Luft im Gesichtsgewebe. In der Fachliteratur fand ich später vereinzelte Fälle, bei denen durch medizinische Eingriffe Luft ins Gewebe gelangt war - zum Beispiel durch die Zahnfleischtaschen.

Wir verschrieben der Patientin ein Antibiotikum, um einer Infektion vorzubeugen. Und rieten ihr, alles zu vermeiden, was zu Luftdruckveränderungen im Gewebe führen kann - Tauchen, Fliegen, Saunabesuche, auch starkes Husten oder Niesen. Sie war erleichtert, dass sie an keiner schwerwiegenden Erkrankung litt.

Nach einer Woche war die Schwellung verschwunden. Und ich hatte wieder einmal erlebt, wie wichtig es ist, immer den genauen Ursachen von so allgemeinen Symptomen wie einer Schwellung nachzugehen.

Dr. Marc Alexander Radtke, 39
Er ist Leitender Oberarzt für Dermatologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf


Kildereference

"Die Frau mit der dicken Backe". Stern, 11.12.2014, S. 100